Baby

Das Dogma Stillen

Mai 1, 2019

Schon bevor mein Mädchen auf die Welt kam, war für mich klar, ich werde sie stillen. Und warum? Weil es wirklich gut für das Baby ist. Aber auch, weil man das eben so macht.

Um ehrlich zu sein, habe ich mir im Vorhinein gar nicht viele Gedanken darum gemacht, ob ja oder nein. Man bekommt ein Baby, man stillt es. So fühlt es sich irgendwie richtig an und so – muss man einfach sagen – diktieren es die gesellschaftlichen Erwartungen. Und die meisten aller Mütter unterwerfen sich ganz selbstverständlich diesem Dogma. Es wird geradezu als Inbegriff der mütterlichen Fürsorge und Liebe gehandelt und die Vorzüge des Stillens werden auf sämtlichen Plattformen gepredigt, egal ob im Netz oder im echten Leben. Insbesondere in der Anonymität der sozialen Medien herrscht geradezu ein unhaltsamer Druck zu stillen. Toleranz gegenüber veränderten Familienkozepten? Fehlanzeige. Stattdessen schwirren online unzählige Beiträge zum Hashtag #stillenistliebe und #breastisbest umher. Was wiederum impliziert, dass Flasche geben keine Liebe ist. Ahja? Sogar eine Weltstillwoche gibt es, #normalizebreastfeeding schreit es in vielen Kampagnen und mittlerweile kann man sich auf Instagram an sogenannten „Brelfies“ satt sehen. Selfies von Frauen während des Stillens. Ein absoluter Wahnsinn – wofür das alles?

Warum gibt es eine derartige Aufruhr um etwas, was doch eigentlich das normalste und natürlichste der Welt sein sollte? Wann hat es angefangen, dass man sich dafür rechtfertigen muss, ob man stillt oder die Flasche gibt? Ohne Rücksicht auf persönliche Hintergründe, werden Mütter in eine klassische Rolle gedrängt. Ein absolut konservatives Frauenbild, das keine Alternativen erlaubt. Sollte man nicht jeder Frau ihre eigenen Entscheidungen zugestehen? Erst vor kurzem sagte eine Mutter zu mir, sie fühle sich, als ob sie versagt, wenn sie ihrem Kind zwischendurch mal die Flasche gibt. Aber vor wem versagt man, wenn man so denkt? Es gibt genau drei Menschen, die mit der Ernährung des Kindes zufrieden sein müssen: die Eltern und das Baby selbst.

Aber da sind die Ketten der Gesellschaft noch lange nicht am Ende. Denn entscheidet man sich für das Stillen, macht man auch nicht automatisch alles richtig. Stillen in der Öffentlichkeit? Für viele immer noch ein absolutes No Go. Im Grunde kann man es also, wie so oft im Leben, niemandem recht machen. Es herrscht Ausgrenzung für die nicht stillenden Mütter, wie auch für die stillenden. Erst recht, wenn eine Frau sich dazu entscheidet ihr Kind länger zu stillen, als es der Eltern-Knigge vorschreibt. Bis zum 6. Monat wird man schief angeguckt, wenn man nicht stillt und ab dem 7. Monat wird man verachtet, wenn man noch stillt.

„Muttermilch schützt vor Allergien, Magen-Darm-Infekten und Mittelohrentzündungen, transportiert wichtige Vitamine, Mineralstoffe, Enzyme, Hormone und Abwehrstoffe. Gestillte Kinder sind besser gegen Diabetes gewappnet. Stillende Mütter erkranken weniger häufig an Gebärmutterhals- und Brustkrebs als Frauen, die nicht gestillt haben. Obendrein ist Muttermilch praktisch, immer ausreichend vorhanden, noch dazu in der richtigen Temperatur und gratis.“

Klingt wie ein 6er im Lotto, besser und einfacher geht’s ja kaum. Welche Mutter würde sich also dazu entscheiden, ihrem Baby und sich selbst all diese Vorteile vorzuenthalten? Die Antwort ist ganz einfach: Diejenigen, bei denen es schlichtweg körperlich nicht klappt oder die andere persönliche Hintergründe haben, die man ebenfalls ernst nehmen sollte. Ja, es gibt Mütter, bei denen funktioniert es einfach nicht. Und ich frage mich, wie viel Naivität in der Gesellschaft noch herrschen kann, dass man mit dem Zeigefinger auf diese Mütter zeigt, anstatt zu hinterfragen, was der Grund dafür sein könnte. Man weiß nie, was dahinter steckt und ich habe bisher noch keine Frau getroffen, die nicht einen ganz logischen Grund dafür gehabt hat, den man (ganz besonders, wenn man selbst Mutter ist) nachvollziehen können sollte.

Für mich war, wie bereits erwähnt, klar, dass ich stillen möchte, denn auch mich hat diese Gesellschaftsschraube eingesogen und natürlich möchte ich meinem Baby all diese „Vorteile“ liebend gerne geben. Trotzdem – niemals hätte ich mich gegeißelt oder aufgeopfert, wenn es nicht geklappt hätte. Wäre ich deswegen eine schlechtere Mutter gewesen? Mit großer Sicherheit nicht. Ich hätte mich für das entschieden, was ich am besten für mich und mein Baby vereinbaren kann. Denn man ist als Mutter nicht plötzlich nur noch eine Maschine, sondern immer noch Mensch. Und zu einer gesunden Stillbeziehung gehören immer zwei dazu.

Wenn man es genau betrachtet, ist es streng genommen sogar so, dass man als Mutter im Kreißsaal mit seinen Bedürfnissen ungefragt übergangen wird. Da kommt keine Hebamme und fragt, ob man sein Baby stillen möchte oder nicht. Nein – während man gerade noch dabei ist, diesen unglaublichen Moment der Geburt zu verkraften und gar nicht Herr seiner Sinne ist, kommt auch schon das Baby angeflogen. Die Hebamme schiebt die Bettdecke beiseite und zack, hängt plötzlich das Kind an der Brust. „Na, das klappt ja super, bin in einer halben Stunde wieder da.“, waren die Worte meiner Hebamme, die dann routinemäßig den Raum verließ. Dass ich tatsächlich stillen wollte, konnte die eifrige Frau ja nicht ahnen. Von Selbstbestimmung keine Spur.

Ich hatte das „Glück“ (Glück, weil ich es mir ja gewünscht hatte), dass alles geklappt hat. Keine fiesen Entzündungen, kein Milchstau, keine Unterproduktion, ein Kind, dass den Saugreflex definitiv zur Perfektion beherrscht hat und die Brust quasi schon gesucht hat, bevor sie überhaupt wusste, was das ist. Trotzdem kann ich nicht gerade behaupten, dass ich das Stillen anfangs als einen liebevollen oder innigen Akt empfunden habe, wie es von allen gelobt wird. Auf gar keinen Fall! Ich habe regelmäßig geweint, es tat furchtbar weh und vor jedem Anlegen habe ich Angst im ganzen Körper gehabt. Wenn ich nicht zwei Wochen lang die Zähne zusammengebissen hätte, weil ich meiner Tochter und mir diese Zeit und Chance geben wollte, dass wir es gemeinsam schaffen, dann würde ich nun vermutlich auch die Flasche geben. Und zwar mit ganz genauso viel Liebe, wie ich ihr nun die Brust gebe. Inzwischen kann ich sagen, dass ich die Momente mit ihr sehr genieße. Es ist wirklich süß, wenn ich sie im Arm halte, wir uns in die Augen sehen und sie sich an mir festhält. Und doch hätte ich diese Erlebnisse mit ihr doch genauso oder zumindest ganz ähnlich mit einer Flasche gehabt.

Ich empfinde es wirklich als eine Unverschämtheit, dass über ein so intimes Thema derartig diskutiert wird. Sieht man eine stillende Mutter auf der Parkbank, werden die Augen gerollt. Sieht man eine Mutter mit Flasche, wird sie mit Blicken halb umgebracht. Und das, obwohl noch nicht mal jemand weiß, ob in der Flasche nicht sogar einfach abgepumpte Muttermilch ist. Schließlich gibt es ja heutzutage sogar Cafés und Restaurants, die die Aufschrift „Stillen verboten“ tragen. Und dann? Soll man sein Kind verhungern lassen? Dann muss man entweder eine Flasche mitnehmen oder man grenzt sich vom sozialen Leben aus.

Gleichzeitig scheint Stillen einen geradezu industriellen Boom zu durchleben. Was es auf dem Markt alles zu kaufen gibt, ist der absolute Wahnsinn. Einweg Stilleinlagen in Ultra Dry oder Comfort, Stilleinlagen aus Wolle, Brustpflege Thermopads, Stillhütchen, bergeweise Salben und Cremes, Gelpads, Stillbekleidung, Stillratgeber, Milchpumpen und Muttermilchbeutel, Stillkissen und sogar Stillmerker. Wow. Die Frage, ob man all das benötigt, kann sich jeder selbst beantworten. Manche Dinge sind hilfreich, aber braucht es wirklich diesen Dschungel an Utensilien, um sein Kind schlichtweg zu füttern? Dazu kommt, dass die oben genannten Sachen nicht gerade günstig sind. Ist Stillen seitens der Industrie ein Privileg geworden? Tatsächlich habe ich gelesen, dass deutlich mehr Leute aus der Arbeiterklasse die Flasche wählen und Akademiker bevorzugt stillen. Mich würde interessieren, wer diesen schmalen Grad der Beurteilung und Bewertung betreten hat. Je mehr man sich mit diesem Thema auseinandersetzt, desto mehr möchte man eigentlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

Ein wenig mehr Respekt, Toleranz und Akzeptanz unter- und füreinander wäre doch viel wichtiger, als all diese gnadenlosen Verurteilungen. #normalizebabyfeeding müsste es wohl eher heißen.

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