Baby

Farbe bekennen – geschlechtsneutrale Erziehung

August 14, 2020

Ich stehe mit meinem 3 Monate altem Baby im Aufzug. Neben mir ein Mann in Anzug mit Aktentasche. „Wie heißt denn der Kleine?“, platzt es nach einigen Sekunden des Schweigens aus ihm heraus. „Die Kleine heißt Lenia.“, war meine Antwort. „Achso, ich dachte, es sei ein Junge, weil sie etwas Blaues trägt“.

Müsste ich seiner Meinung nach also ausschließlich rosa Kleidung kaufen, um mein Kind fachgerecht zu kennzeichnen? Sicher war das keine böswillige Frage, aber es hat ziemlich deutlich gemacht, wie schnell der Geschlechter-Stempel auch heute noch vergeben wird. Bereits von Geburt an gibt es gewisse Erwartungen an die Rollen:
Mädchen sind sanft, zurückhaltend und schön.
Jungs sind laut, stark und tobend.
Mädchen tragen rosa. Jungs tragen blau.

Aber sind diese Charakterzüge angeboren oder anerzogen?

Grundsätzlich sind Kinder ja erstmal an allem interessiert. Mädchen kommen nicht auf die Welt und finden Puppen spannend und Autos blöd. Und Jungs wollen nicht automatisch nur Ball spielen oder Lego bauen. Mit ca. 2 1/2 Jahren beginnen Kinder zwar, sich einem Geschlecht zugehörig zu fühlen, nicht aber einem Spielzeug. Einige Entwicklungen sind bei Jungs und Mädchen mit Sicherheit einfach unterschiedlich, aber vieles wird den Kindern auch schlichtweg auferlegt – und das schon im allerkleinsten Mini-Alter. Quasi, wenn die Kinder das Licht der Welt erblicken.

Die Geschenke zur Geburt unserer Tochter gingen von Plüschtieren, über Tüllkleider, bishin zu rosa Bodys, rosa Decken, rosa Schnuller, Glitzer, Glanz und ganz viel Kitsch. Es gab tatsächlich nur wenige Ausnahmen, über die wir dann auch wirklich doppelt dankbar waren. Alles andere landete im Nullkommanix in einer Kiste, die bis heute im Keller verstaubt und vielleicht irgendwann mal auf dem Flohmarkt würdigere Besitzer findet, als wir es je waren. (Sorry for that, Freunde.)

Unsere Tochter trägt von Anfang an alle Farben, spielt lieber mit Autos und Bällen, statt mit Puppen, klettert und tobt was das Zeug hält und ihr bester Freund ist ein kleiner Junge. Und wenn sie in einem halben Jahr erstmal wieder lieber mit Puppen spielt, dann ist das auch vollkommen ok. Ich bin froh, dass mein Mann und ich da die gleiche Meinung teilen und das auch nie etwas war, worüber wir überhaupt erst sprechen mussten.

Wenn man Kindern nicht alle Möglichkeiten offenlegt, haben sie ja gar keine Wahl in ihrer frühkindlichen Entwicklung. Woher sollen sie wissen, was ihnen gefällt, wenn man ihnen gewissen Dinge vorenthält oder als falsch auferlegt? Umso wichtiger ist es, dass man stereotype Geschlechterrollen möglichst früh aufbricht. Das heißt nicht, dass Mädchen kein rosa mehr tragen dürfen und Jungs kein blau. Viel mehr sollte es so sein, dass sie es nicht müssen, sondern eben auch grau, grün, lila, pink und gelb, wenn sie Lust dazu haben. Dass sie überhaupt die Chance für eine eigene Entscheidung haben und diese auch nicht verurteilt oder in Frage gestellt wird.

Aber selbst, wenn Eltern versuchen ihr Kind neutral zu erziehen, lauern im Alltag überall die typischen Rollenmerkmale – in Bilderbüchern, in Hörbüchern, im Fernsehen – und dort insbesondere in der Werbeindustrie. Die Werbebranche hat daraus inzwischen sogar Profit geschlagen. Dort, wo ich unser Spielzeug am liebsten kaufe, gibt es alles immer einmal in rosafarbener Ausführung und einmal in blau. Ein und dasselbe Spielzeug. Im Zweifel kaufen Eltern dann eben einfach doppelt, wenn sie ein Mädchen und einen Jungen zuhause haben.

Wenn ich dann mal etwas in blau kaufe, was nicht selten vorkommt – weil ich es schlichtweg schöner finde – wird mir von der Verkäuferin jedes Mal folgender Hinweis mitgegeben: „Wir haben das aber auch für Mädchen da.“ Was bedeutet das denn? Verbrennen sich Mädchen an blauer Farbe die Finger oder tragen sie irgendwelche Entwicklungsschäden davon? Ich verstehe das nicht. Wann hat diese Einteilung angefangen, warum überhaupt und wann hört es wieder auf?

Überall wird heutzutage von Geschlechter-Neutralität und Abschaffung von Stereotypen gesprochen, aber insgeheim wird doch noch überall kategorisch differenziert.
„Das ist aber kein Spielzeug für Jungs“, wäre wahrscheinlich ein typischer Satz, wenn ein kleiner Junge mit einer Barbie spielt. Und tatsächlich ist es auch für mich – obwohl ich so neutral denke – ein fremdes (bewusst ein fremdes und kein befremdliches) Bild, wenn ein Junge einen Puppenwagen vor sich herschiebt.

Kinder haben eigentlich kaum eine Wahl: sie sind unbeschriebene Blätter und die Erwachsenen tragen zu einem erheblichen Teil an ihrer Meinungsbildung bei. Wenn dann 10 Mal ein Erwachsener zu ihnen sagt, dass Jungs eben nicht mit Puppen spielen, dann muss das wohl so richtig sein. Wem sonst sollen sie auch glauben, wenn nicht den Großen?

Mitunter ist der Hintergrund häufig, dass Eltern ihr Kind vor Mobbing schützen möchten.
Denn eine der Problematiken ist nach wie vor, dass es zwar ok ist, wenn Mädchen lauter, stärker und selbstbewusster sind als andere – dann sind sie eben der Pipi Langstrumpf und Ronja Räubertochter Typ. Wenn ein Junge aber zu verletzlich, weiblich und sanft ist, dann ist es nicht ok. Dann muss er an sich und seiner Persönlichkeit arbeiten. Und liegt es nicht auf der Hand, dass das der komplett falsche Weg ist, um ein Kind zu erziehen, welches zu sich und für sich selbst einsteht?

Einige Persönlichkeitsstrukturen sind einfach im Menschen veranlagt, aber insgesamt ist es ja auch so, dass die Entwicklung einer Persönlichkeit in hohem Maße davon beeinflusst wird, was die Gesellschaft und das nahe Umfeld von uns erwartet.
Und diese veralteten Rollenbilder werden heute sogar noch schulisch vermittelt. Angefangen von ‚Grimms Märchen‘ bis hin zum vermeintlich rollenaufbrechendem Girls Day.

Es war, ist und bleibt noch so viel Luft nach oben. Und ich denke, es ist wichtig, dass man sich als Eltern bewusst macht, was man seinem Kind in dieser Hinsicht vermitteln möchte. Was man vorlebt, weitergibt und damit auch zwangsläufig anerzieht. Lasst uns einfach alle ein bisschen mehr blau und rosa tragen. Stereotypen sind so 1990.

 

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