Baby

Warum man Babys nicht schreien lassen sollte

Februar 20, 2020

Immer wieder erzählen mir Mütter oder Väter, ihre Eltern würden ihnen dazu raten, ihr Neugeborenes oder wenige Monate alte Baby doch ruhig auch mal schreien zu lassen. „Das stärkt die Lungen und härtet ab“, hat man damals gesagt. Und immer wieder bin ich wirklich erschrocken darüber, dass dieser Gedanke tatsächlich noch so fest in der älteren Generation verankert ist. Mal ganz davon abgesehen, dass ich ohnehin nicht verstehen kann, dass es überhaupt mal diesen Ansatz gab, der jahrelang propagiert und befürwortet wurde. Wie kann das sein?
Man sollte eigentlich meinen, dass ein Elternherz überhaupt nicht dazu in der Lage ist, so zu handeln.

Leider wird aber auch heutzutage noch von einigen Ärzten empfohlen, das Baby mal weinen zu lassen, um ihm beispielsweise das (Durch-)Schlafen beizubringen. Das Buch „Jedes Kind kann schlafen lernen“, bis zum heutigen Tag ein jahrelanger Bestseller, spiegelt genau diese umstrittene Methode wieder. In der sogenannten Ferber-Methode heißt es, dass man die Babys Stück für Stück daran gewöhnen soll, dass sie ohne Hilfe der Eltern einschlafen und sich beim Weinen selbstständig beruhigen können. Das Baby in den Arm oder aus dem Bett zu nehmen, sei verboten. Die Crux an der Sache ist: es funktioniert tatsächlich. Die Kinder zahlen auf lange Sicht jedoch einen hohen Preis dafür.

Das Schreien ist ein Hilferuf des Babys, welcher jedes Mal für Stress im Körper sorgt. Das wiederum bedeutet, dass das Hormon Cortisol ausgeschüttet wird. Erfährt ein Baby in so einer Situation keine Regulation, sprich Zuwendung und Trost von außen, führt solch ein dauerhafter Zustand dazu, dass durch den Überschuss von Cortisol bleibende Schäden im Gehirn angerichtet werden können. Die Kinder schalten nach gewisser Zeit ganz automatisch in einen Notfallmechanismus – sie verstummen, resignieren und das Allerschlimmste:
sie verlieren das Vertrauen in ihre Bindungspersonen. Für die Kleinen ist das Schreien lassen tatsächlich eine traumatische Erfahrung. Sie verfallen in Panik und anschließend geradezu in eine Ohnmacht, die sie in ihrem Alter noch gar nicht verarbeiten können. Wissenschaftler und Bindungsforscher kritisieren daher diese Methode schon seit langer Zeit.

Wenn das Kind dagegen lernt, dass es sich auf seine Eltern verlassen kann, fördert das sowohl die Bindung als auch das Vertrauen und das Weinen wird ganz automatisch Stück für Stück weniger. Außerdem weinen Babys nicht ohne Grund. In den ersten Monaten handelt es sich meist um Sorgen wie Hunger, Müdigkeit, eine volle Windel, Nähebedürfnis, Überreizung, schlechte Träume oder auch Schmerzen.
Wieso sollte man also diese Gründe einfach übergehen anstatt sie zu beheben?
Ich habe vor einigen Monaten einen für mich sehr treffenden Satz gehört: „Gestillte Bedürfnisse beruhigen sich irgendwann, ungestillte nicht.“ Es ist wie mit dem Stück Schokolade: verwehrt man es einem Kind immer und immer wieder, wird es womöglich nie aufhören danach zu verlangen.
Signalisiert man seinem Baby, dass man da ist, sich kümmert und dass es sich auf seine Eltern verlassen kann, wenn es sich in einer Notlage fühlt, wird es automatisch entspannter und wird mehr Vertrauen in seine noch so kleine Welt schöpfen.

Auf der anderen Seite, wo eben nicht von außen reguliert wird, entsteht Stress im Kopf. Es ist nachgewiesen, dass die übermäßige Cortisolausschüttung dauerhaft das Angstzentrum im Gehirn beeinflusst. Das bedeutet unter anderem, dass nicht nur im Babyalter, sondern bis ins Erwachsenenalter die Fähigkeit fehlt, gut mit Stress umzugehen. Es besteht die Gefahr für eine dauerhafte Überempfindlichkeit, Anfälligkeit für Depressionen, stressbedingte psychische Erkrankungen, Schlaflosigkeit, Bluthochdruck, chronische Müdigkeit, sogar Asthma, Herzerkrankungen oder Panikattacken. Das ist eine ziemlich beängstigende Liste, wie ich finde und dabei sind es nur wenige der negativen Nachwirkungen, über die ich nach meiner Recherche gestolpert bin. Ganz davon abgesehen, dass es die Bindung zu den eigenen Eltern nicht unerheblich negativ belastet.

Das Prinzip des Schreien lassens ist demnach eigentlich unverkennbar nicht der richtige Weg. Wundersamer Weise hilft es aber im ersten Moment – die angestrengten, übermüdeten Eltern sehen Erfolg, denn das Kind schläft endlich alleine ein und durch. Das ist allerdings ein großer Irrglaube. Die Kinder haben lediglich aufgegeben, sich zu melden und liegen folglich mit ihren Bedürfnissen stumm im Bett. Evolutionsgeschichtlich ist es aber sogar ein absolut normales Verhalten, dass Kinder nachts wach werden und sich vergewissern, ob sie noch im Schutz ihrer Eltern sind. Wie auch wir Erwachsenen haben Kinder einzelne Schlafzyklen, zwischen denen sie immer wieder aufwachen. Wir schlafen in der Regel ganz unbemerkt und von alleine wieder ein. Babys sind dazu aber noch nicht in der Lage.

Erfährt das Baby in seinen „Notsituationen“ Trost, schüttet der Körper das Bindungshormon Oxytocin aus, welches dafür sorgt, dass der Stress wieder sinkt. Das heißt nicht, dass sich das Baby immer und sofort wieder beruhigen lässt. Manchmal klappt das trotz aller Zuwendung und Fürsorge nicht. Dennoch hilft es dem Kind aber sehr, auch wenn man es nicht immer als direkte Resonanz bekommt.

Bindungsforscher und Kinderpsychologe Karl Heinz Brisch sagt, dass Kinder, die diese Zuwendung erfahren, ingesamt besser mit Stresssituationen umgehen können. Dass sie empathischer sind, Fähigkeiten für eine gelingende zwischenmenschliche Beziehung besitzen, eine bessere Sprachentwicklung und Lernleistung haben, um Hilfe bitten können und oft kreativ und hilfsbereit sind. Wenn ein Kind lernt, dass seine eigenen Bedürfnisse wahr- und vor allem ernstgenommen werden, dann kann es das auch bei seinen Mitmenschen anwenden.

Natürlich bedeutet das nicht, dass man bei jedem kleinsten Ton sofort aufspringen oder dem Kind sein Leben lang alle Wünsche von den Lippen ablesen soll und jegliche Form von Erziehung einfach über Bord gehen lässt. Man spricht hier von einem Zeitraum von ca. 0 – 1 1/2 Jahren. In dieser Phase handelt es sich einfach noch um einen so kleinen, unerfahrenen und hilflosen Menschen, der auf die Regulation seiner Eltern schlichtweg angewiesen ist. In der darauffolgenden Trotzphase gibt es wieder ganz andere Bedürfnisse und Themen, die uns Eltern auf  Trab halten. Sicherlich wird man ab dann lernen, sein Kind nochmal anders zu verstehen und zu begleiten.

Das Wichtigste bleibt doch aber immer, dass man es hört, ihm zeigt, dass man da ist und man angemessen reagiert. Dass man durch alle Phasen gemeinsam geht und sein Kind nicht seinem Schicksal überlässt, weil es für einen selbst der vermeintlich einfachere Weg ist. Ein Kind zu bekommen bedeutet, es zu begleiten, aufzufangen und auf den bestmöglichen Weg zu bringen – auch in anstrengenden Zeiten.

Liebe Grüße, Britta

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2 Comments

  • Reply Jenni Februar 20, 2020 at 7:26 pm

    Ganz toller Beitrag! ❤️ Lese super selten Blogbeiträge, aber du hast es auch wirklich super geschrieben. So traurig, dass es immernoch teilweise so praktiziert wird.. jedoch toll, dass du nochmal auf die fatalen Folgen aufmerksam machst und für das Thema die Leser sensibilisierst. ☺️

    • Reply Britta Februar 21, 2020 at 8:28 am

      Danke liebe Jenni! 🙂

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